Bibelstudium – Advent und Weihnachten
11. Vollversammlung
Dieser erste Text ist Teil einer Reihe von Bibelstudien zur Vorbereitung der 11. ÖRK-Vollversammlung und wurde von Pfr. Dr. Susan Durber verfasst, einer Pfarrerin der Vereinigten Reformierten Kirche im Vereinigten Königreich, die einer Gemeinde im Südwesten Englands dient.
Einleitung
In der Adventszeit und wenn wir Weihnachten feiern, kommt Jesus in vielen unserer besinnlichen Betrachtungen vor – nicht so sehr als erwachsener Mann, sondern als Säugling und sogar als Kind im Mutterleib. In den Lesungen für diese Jahreszeit und auf den Bildern, die wir betrachten (egal ob Weihnachtskarten oder -symbole), begegnen wir nicht dem erwachsenen Jesus, der spricht und lehrt, sondern Jesus als Säugling oder dem Jesuskind oder dem Jesus, dessen Geburt erwartet wird. Der Jesus in dieser Jahreszeit ist keiner, der selbst Worte der Liebe spricht oder den Menschen aufträgt, einander zu lieben, oder der liebevolle Dinge tut. Er ist zuallerst ein Jesus, der Liebe empfängt, der von der Liebe anderer abhängig ist und der die Liebe Gottes verkörpert, noch bevor er sie noch gebietet oder von ihr spricht. In dieser Jahreszeit und in diesem Christus, der Liebe empfängt, erkennen wir die ganze Fülle von Gottes Liebe als die des Einen, der uns so sehr liebt, dass er verwundbar wird, dass er „sich selbst ausgießt“ und unter uns die Gestalt eines Kindes annimmt. Wir entdecken in den Geschichten aus dieser Jahreszeit unseres Glaubens, dass Liebe nicht nur ein Akt der Stärke sein kann, sondern auch ein Akt der Verletzlichkeit. Der Christus, dem wir in den Weihnachtsgeschichten begegnen, handelt nicht und spricht nicht, sondern er ist passiv und stumm; er ist derjenige, der Liebe empfängt. Eben dieser Gott, der sich nach unserer Liebe sehnt und der von unserer Liebe zehrt, ist es, der uns die Mysterien der Liebe in ihrem ganzen Umfang lehrt.
Bibelstellen: Lukas 2,1-7; Lukas 2,25-35; Lukas 2,41-51
Lukas 2,1-7
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Lukas 2,25-35
Und siehe, ein Mensch war in Jerusalem mit Namen Simeon; und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war auf ihm. Und ihm war vom Heiligen Geist geweissagt worden, er sollte den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam vom Geist geführt in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach:
Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren,
wie du gesagt hast;
denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen,
das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern,
ein Licht zur Erleuchtung der Heiden
und zum Preis deines Volkes Israel.
Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das, was von ihm gesagt wurde. Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen, und ist bestimmt zu einem Zeichen, dem widersprochen wird – und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen –, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden.
Lukas 2,41-51
Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten’s nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss bei denen, die zu meinem Vater gehören? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.
Betrachtung
In der christlichen Tradition ist uns der Gedanken vertraut, dass Maria dem Kind Jesus vieles beibrachte, so wie jede Mutter ihrem Kind etwas beibringt. Diese Überlieferung hat im westlichen Christentum unerschütterlich Bestand. So gibt es zum Beispiel Gemälde, auf denen dargestellt ist, wie Maria ihrem Kind das Lesen beibringt – und ihn vor allem lehrt aus der Schrift zu lesen. Wir finden auch Bilder von Josef, der Jesus in einer Werkstatt das Zimmermannshandwerk lehrt. Einiges davon ist sicher der Fantasie entsprungen, doch muss es zumindest auf gewisse Weise der Wahrheit entsprechen, dass Maria, und auch Josef, Jesus wohl etwas über Liebe gelehrt haben. Hier stoßen wir die Art von tiefsinnigem theologischem Paradoxon, die stets zum Mysterium der Fleischwerdung gehört: dass der Eine, welcher Ursprung aller Liebe ist, in Jesus Christus Mensch wurde und so nicht nur die Quelle der Liebe wurde, sondern auch das Objekt der Liebe. Und vielleicht trifft es tatsächlich in hohem Maße zu, dass niemand von uns immer nur das Subjekt der Liebe (der aktive Teil) sein kann, denn wahre Liebe können wir nur dann wirklich finden, wenn wir sie als Objekt erfahren. Liebe wird gelernt, während wir geliebt werden. In Jesus sehen wir das Mysterium des Gottes, der Liebe ist und sich selbst öffnet, um die Liebe von anderen zu empfangen, und der tatsächlich von dieser Liebe abhängt.
In den Bibelstellen, in denen Lukas von Jesu Geburt berichtet, erhalten wir kleine, aber nachhaltige Eindrücke davon, wie Jesus von Maria geliebt wird. Zur Weihnachtszeit machen wir viel aus diesen Eindrücken und, indem wir sie darlegen, holen wir aus ihnen heraus, wie sehr das Christuskind das Objekt menschlicher Liebe war.
Wir sehen, wie Maria ihren Erstgeborenen auf die Welt bringt, ihn in Windeln wickelt und ihn in eine Krippe legt. Jede Mutter, die ihr Kind gewickelt hat, weiß, wie viel Geborgenheit dieses Wickeln dem Neugeborenen vermittelt, das die Wärme und den Hort des Mutterleibs verlassen hat. Es ist ein Akt der Liebe dafür zu sorgen, dass das Kind in die Wiege gelegt wird und sich warm und geborgen fühlt. Hier sehen wir wie Maria das tut, was unzählige Mütter schon immer getan haben. Und obwohl es ein so gewöhnlicher Akt der Liebe ist, oder vielleicht genau deswegen, sind wir davon ergriffen.
Weiter hinten in der Geschichte sehen wir, dass Maria und Josef ihr Kind zum Tempel bringen, „um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz“, und wir können ihren Stolz als frischgebackene Eltern spüren. Noch mehr erstaunt es sie, als der alte Mann, Simeon, im Tempel anfängt, von ihrem Kind als einem „Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel“ spricht. Und dann warnt Simeon vor dem bevorstehenden Leid; er vertraut Maria an: „auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen“. Maria mag ihr Kinder wie jede Mutter bewundern, doch Simeon weiß, dass ihre Liebe ihr auch Schmerz bereiten wird, dass Liebe kostbar ist, dass Liebe sie zutiefst verletzlich machen wird. Da wir wissen, wie sich die Geschichte entwickelt, können wir nicht anders als an die Maria zu denken, die am Fuße des Kreuzes steht, und uns kommen die vielen bewegenden Darstellungen Mariens in den Sinn, die in ihren Armen nicht einen lebendigen Säugling hält, sondern den toten, vom Kreuz genommenen Christus. Wir wissen, dass Liebe oft wegen der Schmerzen, die sie mit sich bringt, bemitleidet wird. Liebe macht uns verletzlich. Das ist die Liebe, die Jesus als Kind von seiner Mutter erfuhr und die er selbst ebenfalls auslebte.
In der Geschichte vom verlorengegangenen Jesuskind erfahren wir den Schmerz, den diese Liebe für Maria bedeutete. Als sie wieder mit ihrem Sohn vereint ist, spricht sie: „Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Und am Ende der Geschichte lesen wir: Maria „behielt alle diese Worte in ihrem Herzen“. Hier haben wir es mit einer liebenden Mutter zu tun, mit liebenden Eltern, für die, wie viele bezeugen können, das Leben immer verletzlicher ist, weil es so eng mit dem Wohlbefinden Ihres Kindes verbunden ist.
Vielleicht hat Maria ihrem Kind das Lesen beigebracht, vielleicht auch nicht. Doch mit Sicherheit brachte sie ihm etwas darüber bei, wie man liebt. Wir alle lernen Liebe zuerst durch unsere Eltern bzw. durch die Menschen, die uns aufziehen, kennen. Ob wir die Lektionen benennen können oder nicht, das, was wir von unseren Eltern über Liebe gelernt haben, begleitet uns, während wir zu Erwachsenen heranreifen. Wir alle wissen, dass Menschen, die in ihrer Kindheit allumfassende und bedingungslose Liebe erfahren haben, dazu tendieren, ausgeglichene und selbstsichere Erwachsene zu werden, die gerüstet und bereit sind, sich in ihren eigenen Beziehungen liebevoll und großzügig zu verhalten. Liebe ist nicht etwas, von dem wir einfach so beschließen können, dass wir es ganz von allein praktizieren oder das wir uns selbst verordnen, sondern es ist etwas, das wir alle erst empfangen müssen, bevor wir es weitergeben können – das ist das Wesen der Liebe.
Der presbyterianische Schriftsteller und Theologe Frederick Buechner schrieb in bewegenden Worten, wie die Liebe zu seinen Enkelkindern begann:
Als ich an dem Tag auf der Treppe zum ersten Mal meinem ersten Enkelkind begegnete, sah ich mit den Augen in meinem Kopf einen winzig kleinen Jungen mit silbrig glänzendem Blondschopf und Augen von der Farbe blauer Jeans, der mir auf dem Arm seiner Mutter entgegenkam. Was ich mit den Augen meines Herzens sah, war ein Leben, für das ich ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, mein eigenes Leben gegeben hätte.
(The Eyes of the Heart, 1999, 165–66)
Buechner schrieb erst kürzlich, so, wie er einst von seinen Großeltern viel über Liebe gelernt habe, so lerne er jetzt Liebe von seinen sechs Enkelkindern, die ihn ohne Vorbehalte liebten. Jesus war Teil einer menschlichen Familie und lernte dort die Lektionen der Liebe: ihre Macht, ihre Leidenschaft und ihre Verletzbarkeit. Später lehrte er Liebe durch Gleichnisse, sprach ein „neues Gebot“ der Nächstenliebe aus, bezeichnete „du sollst Gott lieben“ und „du sollst deinen Nächsten lieben“ als die beiden wichtigsten Gebote, liebte seine Jünger als Freunde (nicht als Diener), weinte um den toten Lazarus, den er liebte, und verströmte am Kreuz seine Liebe für die Welt. All diese Liebe, die Liebe Christi, fließt aus dem Herzen Gottes, doch sie wurde auch von der Liebe geformt, die Jesus von seiner Mutter, seiner Familie und seinen Freunden empfing. Als das Fleisch gewordene Wort sprach Jesus nicht wie einer von Liebe, der diese nur aus der Ferne kannte und nie von ihr berührt worden war. Er kannte die Wirklichkeit, er hatte selbst erfahren, wie es ist geliebt zu werden und zu lieben. Die göttliche Liebe wurde der menschlichen Liebe in die Wiege gelegt. Und so kann wiederum unsere menschliche Liebe mit der göttlichen Gnade gesegnet sein.
Fragen zur weiteren Reflexion
- Wie haben Sie erfahren, dass Sie geliebt werden?
- Welche Punkte in Ihrem Leben machen es Ihnen schwer zu lieben?
- Was sehen Sie als charakteristisch für die Liebe an, von der Jesus gesprochen hat?
Gebet
Jesus Christus, unser Herr, Sohn Gottes,
der die Liebe Mariens kannte
und die Verletzlichkeit der Kindheit
wir knien an deiner Krippe
so wie wir unter deinem Kreuz warten,
um die Kraft der Liebe zu sehen,
dargestellt von den Armen, die sich der Welt entgegenstrecken.
Gib uns Menschen, die uns so lieben werden,
wie Christus geliebt hat,
damit auch wir unsererseits lieben können
so wie du es von uns verlangst,
jetzt und in alle Ewigkeit, Amen.
Lied: Mary, Did You Know?
Über die Autorin
Pfarrerin Dr. Susan Durber ist als Geistliche der Vereinigten Reformierten Kirche des Vereinigten Königreichs in einer Gemeinde im Südwesten Englands tätig. Sie hat ein Buch und mehrere Artikel über die Gleichnisse Jesu sowie Predigtbücher und Gebetssammlungen veröffentlicht. Als ehemalige theologische Beraterin für die Hilfsorganisation Christian Aid publizierte sie über Armut, Geschlechterthemen und Klimawandel. Sie ist Vorsitzende der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rats der Kirchen.