A–F, Artischocken–Frieden
Das A bis Z der Schweizer Reformation
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Artischocken.
Die Hugenotten, die während der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts aus Frankreich fliehen, bringen als Uhrmacher und Bankiers Schwung in die Schweiz. Das Wort «Hugenotten» geht auf den alemannischen Begriff Eidgenosse zurück. In Deutschland lassen sich etwa 50 000 der französischen Protestanten nieder und bringen Orangen, Zitronen, Blumenkohl, Erbsen und Artischocken bis nach Brandenburg.
Basel.
Tauler, Erasmus, Calvin, Castellio, Nietzsche oder Barth finden in der Rheinstadt einen fruchtbaren Boden für die Verbreitung von Wissenschaft und Kultur. Nachdem Oekolampad 1529 der Reformation den Weg geebnet hat, nimmt die Stadt zahlreiche Hugenottenflüchtlinge auf. Diese tragen zum Erfolg der heute weltbekannten Chemie- und Pharmaindustrie bei. In der Druckerstadt Basel wird 1516 das von Erasmus vorbereitete Neue Testament in griechischer Sprache herausgegeben. Bereits zwei Monate nach ihrer Verfassung im Jahr 1517 sind die 95 Thesen Luthers in Basel im Umlauf und 1536 erscheint hier die erste Ausgabe der Institutio Christianae Religionis von Calvin.
Bekehrung.
Zwingli steckt sich bei der Pflege von Kranken in Zürich mit der Pest an und gelobt, sich im Falle einer Heilung strikt an Jesus Christus zu halten. Nach seiner Genesung heiratet er Anna Reinhart, die ihn gepflegt hat. Luther – wie ehedem Paulus – weiht sein Leben Gott als Folge eines Blitzschlags, der ihn in Angst und Schrecken versetzt. Niklaus von Flüe zieht sich in die Askese zurück, nachdem er die Vision einer Lilie hatte, die von einem Pferd gefressen wird. Über Calvins Bekehrung ist nichts bekannt.
Bern.
«Fahre nur mutig fort, deine wilden Bären allmählich zu zähmen», ermutigt der Zürcher Zwingli Berchtold Haller, den nach Bern emigrierten Priester und Freund von Melanchthon. Haller versucht nach 1520 schüchtern, die Berner Kirche zu reformieren. Schliesslich hält Zwingli 1528 an der Disputation in Bern selbst eine Predigt und verhilft damit der dortigen Reformation zum Durchbruch. Dieser Schritt ist auch insofern von Bedeutung, da sich ohne den Einfluss Berns die Waadt und Genf nicht für die Reformation entschieden hätten.
Berufe.
Berufe der Protestanten, die wegen der Verfolgungen zu Beginn der Reformation aus Frankreich nach Genf flüchten: Waffenschmiede, Wollkämmer, Schuhmacher, Bäcker, Tuchmacher, Giesser, Buchhändler, Tischler, Goldschmiede, Uhrmacher, Schlosser, Schneider, Weber, Küfer und Gaukler.
Bildersturm.
Die Protestanten misstrauen Bildern. Als eifrige Bibelleser stehen sie unter dem Einfluss des Alten Testaments und des Dekalogs: «Du sollst dir kein Gottesbild machen und du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen», so will es das zweite Gebot. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts verehrt die Christenheit Darstellungen des Heilands und der Heiligen. Die Reformatoren sehen darin einen Aberglauben und zerstören die Bildwerke. Sie wollen die direkte Verbindung zwischen Gott und Menschen Wiederherstellen.
Calvin.
Calvin (1509–1564) stammt aus dem französischen Noyon. Seine Auseinandersetzung mit der reformatorischen Lehre setzt vermutlich gegen 1533 in Paris ein. Ein Jahr später müssen er und seine Weggefährten aus Frankreich fliehen. Calvin lässt sich in Genf nieder. 1538 verweist man ihn aus der Rhonestadt. 1541 wird er zurückgerufen und bleibt bis zu seinem Tod in Genf. Calvins Definition der Kirchenordnung sowie seine Lehre von Staat und Kirche dienen weltweit als Vorbild. Seine Gegner unterstellen ihm, dass er eine Theokratie einführen wolle. Tatsächlich will er der Regierung das Recht auf Intervention in Fragen des Gewissens und der Religion entziehen.
Consensus Tigurinus.
1549 schliessen Zwinglianer und Calvinisten in Zürich (der vermuteten Heimat der keltischen Ethnie der Tiguriner) einen Konsens, der das reformierte Lager in den Schweizer Kantonen eint. Der Schulterschluss ist wichtig, denn Kaiser Karl V. will die traditionelle kirchliche Einheit mit Gewalt wiederherstellen. Und mit den Lutheranern kann keine Einigung erzielt werden. Einmal mehr geht es in der Diskussion um die tatsächliche Gegenwärtigkeit von Jesus Christus in Brot und Wein des Abendmahls. «Christus insofern er Mensch ist, ist nirgendwo anders als im Himmel», bekräftigen die Unterzeichner in der Schrift, welche die Geburt der reformierten Kirche in der Schweiz und ihr einheitliches Grundlagenwerk offiziell bestätigt.
Demokratie.
Für Zwingli gilt in Glaubensfragen allein die Bibel als Referenz. Doch die Bibel liefert für die Organisation innerhalb der Kirche keine Rezepte. Was tun? Für die Wahl eines Pfarrers, Diakons oder Ältesten wird die Gemeinschaft zu Rate gezogen, die den Kandidaten beurteilt. Wer am meisten Stimmen erhält, ist gewählt. Das allgemeine Wahlrecht und der demokratische Prozess in der Schweiz sind unter anderem aus diesem Prozedere heraus entstanden. Ein anderes Vorbild ist der Dominikanerorden, der sich bereits seit dem 13. Jahrhundert nach diesem Auswahlprinzip organisiert. Ein Unterschied zwischen Reformierten und Katholiken liegt in der Rolle, die der Klerus in der Gemeinschaft spielt. Für die Reformierten ist «jeder Protestant mit der Bibel in der Hand Papst» (Bossuet), während der Priester der katholischen Kirche als Mediator zwischen Jesus Christus und den Gläubigen wirkt.
Eidechse.
«Von der Gefahr, welcher ich und zween andre Franzosen einst entgingen, wo uns nämlich von einer ungeheuren Eidexe,
die uns begegnete, der Tod drohte. Wir waren damals mitten im Walde zween Tage durch vom Wege abgekommen, und hatten nicht wenig Hunger gelitten; endlich jedoch kamen wir zu einem Dorf, Javo mit Namen, wo wir schon vorher eingekehrt waren. Die Barbarn hier nahmen uns aufs freundschaftlichste auf.» Erzählung des französisch-schweizerischen Geistlichen Jean de Léry (1536 –1613), Auszug aus seinem Werk Des Herrn Johann von Lery Reise nach Brasilien, erschienen 1552, das der französische Denker Claude Lévi-Strauss als Meisterwerk der ethnografischen Literatur bezeichnet hat.
die uns begegnete, der Tod drohte. Wir waren damals mitten im Walde zween Tage durch vom Wege abgekommen, und hatten nicht wenig Hunger gelitten; endlich jedoch kamen wir zu einem Dorf, Javo mit Namen, wo wir schon vorher eingekehrt waren. Die Barbarn hier nahmen uns aufs freundschaftlichste auf.» Erzählung des französisch-schweizerischen Geistlichen Jean de Léry (1536 –1613), Auszug aus seinem Werk Des Herrn Johann von Lery Reise nach Brasilien, erschienen 1552, das der französische Denker Claude Lévi-Strauss als Meisterwerk der ethnografischen Literatur bezeichnet hat.
Erasmus.
Der bedeutendste Repräsentant des Humanismus ist im Gegensatz zum 26 Jahre jüngeren Luther ein Optimist. Er ist der Meinung, dass die menschliche Weisheit dem Wohle der Welt diene, während Luther sie für eine Illusion hält. Für den in Rotterdam geborenen Basler «ist die Religion von Jesus Christus nichts anderes als eine perfekte Freundschaft.»
Ethik.
Für Luther ist das göttliche Gesetz Ausdruck der Unvollkommenheit der Menschen, die sich nicht an die Gebote halten können. Die Reformatoren Zwingli und Calvin sind weniger pessimistisch. Für den Genfer Reformator lädt das biblische Gesetz die Gläubigen dazu ein, ihr Leben zu heiligen. Es soll anderen dazu dienen, die letzten Wahrheiten zu erkennen. Die Reformierten kämpfen gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ungerechtigkeit. Sie wollen den Menschen ihre persönliche Freiheit gegenüber Gott geben. Die soziale Fürsorge und das allgemeine Gesundheitswesen stärken die Autonomie des Nächsten. Die protestantische Ethik wird zum Hort der Menschenrechte, die für den Schutz der Freiheit eines jeden Einzelnen einstehen.
Frauen.
Wibrandis Rosenblatt (1504 –1564) heiratet vier Mal und ist nacheinander Ehefrau der drei bedeutenden Reformatoren Oekolampad, Capito und Bucer. Nach der Abschaffung des Priesterzölibats ändert sich die eheliche Logik. Die Frau bekommt innerhalb der neuen Kirche eine aktivere Rolle. Die grossen Reformatoren loben die Hilfe ihrer Gattinen im Pfarrhaushalt. Obwohl die Geschlechterdiskriminierung mit der Einrichtung des allgemeinen Priestertums nicht zu Ende ist, verbessert sich der Status der Frau in den protestantischen Kirchen allmählich. Im 20. Jahrhundert schliesslich wird die Frauenordination eingeführt. Der in der Sozialhilfe engagierte Evangelische Frauenbund der Schweiz setzt sich ab Anfang des 20. Jahrhunderts ebenfalls für die Gleichstellung in der kirchlichen Praxis ein. Er folgt dem christlichen Impuls: «Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann noch Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus», wie ein Vers des Apostels Paulus besagt.
Freude.
«Gott wollte nicht bloss für unsere Notdurft sorgen, sondern auch für unsere Freude. Kräuter, Bäume und Früchte sollen auch freundlich anzusehen sein und feinen Wohlgeruch haben. Hat doch der Herr die Blumen mit solcher Lieblichkeit geziert, dass sie sich unseren Augen ganz von selber aufdrängen, hat er ihnen doch so süssen Duft verliehen, dass unser Geruchssinn davon erfasst wird.» — Calvin
Frieden.
Der Schweizer Religionsfriede ist kein Mythos. Die Kantone sind in geistigen Fragen autonom. Nach dem Kappelerkrieg von 1531, in dem Zwingli den Tod findet, kommt es zwischen den dreizehn katholischen und reformierten Kantonen der Schweiz zu einer Einigung. Dieses Bündnis hat einen nachhaltigen Einfluss auf die Identität des Landes: Jeder Kanton kann seine Konfession behalten. Es ist ausserdem verboten, in die doktrinalen Fragen des Nachbars einzugreifen. Konfessionelle Minoritäten werden geduldet und manchmal sogar dazu eingeladen, die Kirche der Mehrheitsgemeinschaft zu benutzen.