Liebe Synodepräsidentin, geschätzte Synodale, Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste
Yuval Noah Harari lehrt an der Hebräischen Universität in Jerusalem «Universalgeschichte». Seine berühmten Bücher skizzieren jeweils ein grosses Bild über die Weltgeschichte, den Menschen oder unsere Kultur und unsere Gegenwart. Sie thematisieren die Zukunftshoffnungen und Ängste der Menschen. Wenn Harari die Erfolgsgeschichte der menschlichen Spezies vom nackten bedrohten Säugetier bis zur alles dominierenden und darin potentiell gefährden-den Macht erklärt, verweist er jeweils auf die Macht der Fiktion. Einfach gesagt: Menschen haben in ihrer Um- und Mitwelt einen besonderen Status, nicht weil sie besonders robust, schnell, kräftig, hitze- oder dürreresistent oder ausdauernd sind, sondern weil sie Geschichten erzählen können.
Geschichten haben die Kraft, eine Sehnsucht zu wecken. Geschichten können Familien zu Sippen, Sippschaften zu Stämmen, Stämme zu Völkern vereinigen. Sie haben die Kraft zur Völkervereinigung, können aber auch Zwietracht und Hass schüren. Auch wir kennen solche Geschichten: Die Geschichte des erwählten Gottesvolkes, die Geschichte des American Dreams, die Geschichte von der unveräusserbaren Würde jedes Menschen, Freiheitsgeschichten, Unterdrückungsgeschichten, solche die Frieden stiften und solche, die töten.
Aus dieser Perspektive ist das Christentum eine weitere Geschichte. Als solche Geschichte kann sie benutzt, verwendet und missbraucht werden. Und sie steht in Konkurrenz mit anderen Geschichten und Stories, die unsere Wirklichkeit prägen und unsere Zukunft bestimmen.
Momentan pflanzt sich in Westeuropa eine Geschichte über die Kirche fort, die das Ende der Kirche erzählt. Sie klingt ungefähr so: Die Reformation hat die klerikalen Fesseln gesprengt. Der Mensch wurde religiös mündig und auf sein eigenes Gewissen vor Gott zurückgeworfen. Es kam über die Aufklärung, die Naturwissenschaften, Psychologie und Politik eine unaufhalt-same Befreiungsbewegung in Gang. Seither wird die Kirche durch die Gesellschaft, Seelsorge wird durch die Psychotherapie, Gottesdienste werden durch Podcasts, Nächstenliebe durch den Sozialstaat ersetzt. Das christliche Weltbild, die christliche Hoffnung, die christlichen Dog-men sind entweder in unserer Kultur aufgegangen oder wurden durch unsere Fortschritte überwunden. Zu Gottesdiensten, Gebeten, Taufe und Glaubensinhalten finden Menschen keinen Zugang. Sie sind überflüssig geworden oder bestenfalls das Privatinteresse einiger weniger. Was von der Kirche übrigbleibt, sind ihre guten Werke für Randständige, Bedrückte und Hilfsbedürftige. Die sind den Gesellschaften nützlich und deshalb unterstützenswert.
Es ist der Schwanengesang auf unsere Kirche. Er reduziert uns auf unsere sozialen Werke. Wir stimmen teilweise selber darauf ein. Aber trifft er denn auch wirklich zu? Und hilft uns dieses Narrativ, unsere Kirche weiterzuentwickeln, eine Kraft in der Gesellschaft zu sein, das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden? Wollen wir uns wirklich reduzieren lassen auf unsere Seelsorgedienste und die diakonischen Werke?
Anlässlich eines kurzen Inputs, den ich im April an der Stop-Armut Konferenz in Biel geben durfte, bin ich auf drei Studien gestossen, die uns dringend empfehlen, eine andere Geschichte zu erzählen. Allen ist die Frage gemeinsam, ob es für das gesamtgesellschaftliche Engagement der Menschen einen Unterschied macht, ob sie religiös sind oder nicht.
Zuerst die Studie, um die es an der Tagung ging: Die Gerechtigkeits- und Nachhaltigkeitsstudie (GeNa)1 hat untersucht, welchen Einfluss christlicher Glaube auf das Handeln der Gläubigen hat. Diese empirische Studie zeigt, dass der christliche Glaube nicht primär inhaltlich die Vorstellungen von Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit prägt. Es sind das Feiern von Gottesdiensten und das Erleben von solidarischer Gemeinschaft die die Gläubigen motiviert, sich für diese Anliegen einzusetzen, hoffnungsvoll zu bleiben und dort zu wirken, wo sie etwas verändern können.
Die zweite Studie von Anastas Odermatt heisst «Religion und Sozialkapital in der Schweiz» aus dem Jahr 2022. Sie weist nach, dass Religion nicht per se einen positiven Effekt auf soziales Vertrauen und Engagement hat. Sie hat es dann, wenn sie kultisch und gemein-schaftsbildend tätig ist. Aber dies nur, wenn sie nicht fundamentalistisch oder engführend, sondern weltoffen und liberal ist.
Die dritte Studie ist der Bertelsmann Religionsmonitor 20234 mit dem Titel: «Ressourcen für Solidarität, Religion macht einen Unterschied». Das Monitoring stellt fest, dass es allgemein eine sehr hohe Solidaritätsbereitschaft in Deutschland gibt. Unter verschiedenen Faktoren stechen Religion und religiöse Praxis heraus, weil die Rituale, Gottesdienste und spirituellen Angebote die gesellschaftliche Solidarität besonders stärken. Das lässt sich sogar im Spen-denaufkommen quantifizieren.
In allen drei Studien zeigt sich, dass die besondere Kraft der Religion in ihrer rituellen Praxis – wir könnten auch sagen: im Kultus – liegt. Inhalte, Weltbilder, dogmatische Sätze sind schlimmstenfalls hemmend und erhöhen bestenfalls die Zugänglichkeit. Aber das Potential liegt in der Praxis. Der Sozial-Philosoph und Religionssoziologie Jürgen Habermas, ein selbsterklärt religiös unmusikalischer Mensch, hat es so formuliert: «Wenn wir uns heute fragen, was denn die Religion in diesem engeren Sinne der bis heute prägenden «starken» Traditionen von allen anderen Weltanschauungen unterscheidet, so lautet die Antwort, dass es solche Praktiken sind. Religionen überleben nicht ohne die kultischen Handlungen einer Gemeinde. Das ist das «Alleinstellungsmerkmal». (NmD II, 104.)
Die Faktenlage ist deutlich: Die Kraft der Kirche liegt weder in ihrer Nützlichkeit noch in einem besonderen Dogma oder Weltbild, sondern in einer miteinander erlebten Hoffnung, gemeinsam geteilter Spiritualität, die offen ist für andere. Wir sind nicht nützlich, wir sind gläubig und leben den Glauben. Wir glauben nicht, um nützlich zu sein, sondern weil wir glauben, machen wir einen Unterschied. Der gesellschaftliche Mehrwert, das Sozialkapital, all die guten Dienste und Werke sind nicht das, was Kirche antreibt, sie sind das Ergebnis unseres geistlichen Lebens. Sie sind das, was entsteht, wenn sich Menschen kultivierend verhalten. Wenn sie Gemeinschaft pflegen, ihre Tradition bewahren und sich zusammen für das engagieren, wozu sie Antrieb und Hoffnung finden.
Liebe Synodale, liebe Kirchenverantwortliche
Auf meinen Besuchen landauf, landab spüre ich sie förmlich, die Last, die auf allen unseren Schultern liegt. Sie kommt aus der Herausforderung, unsere Kirche fit zu machen für die ver-änderten religionssoziologische Zusammensetzung in unserer Gesellschaft.
Unsere Vorgänger und Vorgängerinnen konnten profitieren von den goldenen Sechzigerjahren. Sie stellten einen Höhepunkt der staatsgetragenen und staatstragenden Kirchen dar. Wir sind nun die Generation die gefordert ist, die gesamtgesellschaftliche Transformation in unsere Kirchen zu übersetzen. Und ich darf überall feststellen: Wir tun dies mit viel Engagement, Verve, Herzblut, Knowhow. Aus Liebe zu Gott und unserer Kirche. Teilweise bis zur Erschöpfung.
In unserem grossen Reformbemühen sollten wir nicht vergessen, uns die Geschichten zu erzählen, die uns zusammenführen und uns stärken. Denn wir sind den Geschichten, die über uns kursieren nicht einfach ausgeliefert, sondern wir können andere Geschichten schreiben und erzählen. Und sie haben die Kraft, wie Harari sagt, uns zu einen, zu stärken und anzutreiben. Hören wir auf, selber auf den Schwanengesang einzustimmen, sondern singen unser Lied, und schreiben wir die Geschichte des Schweizer Protestantismus weiter.
Ich wünsche mir, dass diejenigen, die nach uns an dieser Kirche weiterbauen von uns erzählen werden, dass wir die nötigen Reformen mit viel Energie vorangetrieben und die Probleme nicht einfach an die nächsten weitergegeben haben. Und dass wir dabei nicht einfach dem Staat nützlich geworden sind, sondern glaubend, bekennend, singend, betend, hoffnungsstiftend und gemeinschaftsstiftend Relevanz geschaffen haben. Ich bin überzeugt, dass es uns als solche Kirche braucht. Unsere Gesellschaft basiert auf Werten, die nicht in religiösem Individualismus zu haben sind:
Anerkennung der Interessen jener, die für sich nicht einstehen können, Demut vor Gott und dem Leben, die Welt als Schöpfung, nicht als Ressource zu sehen, den Menschen in seiner Freiheit und unantastbaren Würde zu verstehen und nicht nur als Mittel, das man zweckrational steuern darf. Ja, Philosophinnen und Philosophen haben das auch gesagt. Aber die Kirche, die betende, hoffende und um Wahrheit ringende Gemeinschaft ist ein guter Ort, diese Werte einzuüben.
All die Konfessionslosen, mit denen wir zahlenmässig verglichen werden, sind keine Institution, sind nicht organisiert oder verfolgen gemeinsam Ziele. Sie haben den Beweis noch nicht angetreten, dass sie die Werte, die eine demokratische, liberale, soziale Gesellschaft ausmachen auch flächendeckend vermitteln können: Demut, Menschenwürde, Nächstenliebe, Freiheit, Verantwortung. Ist das Christentum in unserer westlichen, demokratischen, liberalen Gesellschaft ersetzbar? Ich glaube nicht. Deshalb leben wir fröhlich unseren Glauben weiter. Und stärken die Hoffnung, Gemeinschaft, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Ich wünsche uns allen eine Synode, die sich in diese Geschichte einschreibt.
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* Es gilt das gesprochene Wort