Rita Famos, weder Sie als Erstunterzeichnerin noch der Rat EKS haben das Manifest unterzeichnet. Weshalb unterstützt die EKS diese Anliegen, die den Schutz und die Rechte geflüchteter Menschen betreffen, nicht?
Selbstverständlich unterstützen wir alles, was dem Schutz Geflüchteter dient. Ich schätze auch die Aktion «Beim Namen nennen», die uns daran erinnert, dass die Schicksale von Geflüchteten und Migrantinnen einen Namen, eine Geschichte hat. Alle unsere Kirchgemeinden setzen sich täglich mit vielen ähnlichen Aktionen für die Menschlichkeit unseres Asylsystems ein. Wir tun es auch mit unserer Seelsorge in den Bundesasylzentren, wo alle Menschen, die sich im Asylverfahren unabhängig vom Verfahren ein offenes Ohr und konkrete Unterstützung erhalten, unabhängig davon, wie der Asylentscheid ausfällt. Und selbstverständlich sind uns Menschenrechte, das Völkerrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention wichtig. Aber dieses Manifest konnte der Rat nicht unterzeichnen.
Weshalb nicht? Soll Kirche nicht politisch sein?
Im Gegenteil! Kirche ist politisch und das ist gut so. Aber sie muss ihre politischen Anliegen glaubwürdig vertreten. Das Manifest suggeriert, dass es eine politische Situation gibt, die zur Verletzung von Völkerrechten und Menschenrechten führt und empört sich darüber. In Wirklichkeit ist aber endlich, seit Jahren, auf europäischer Ebene ein bedeutender Fortschritt in der solidarischen Zusammenarbeit der Schengenstaaten erzielt worden. Jetzt geht es darum, diese Reform möglichst gut umzusetzen. Denn der Ist-Zustand ist keineswegs gut, es braucht diese Reform. Dabei hilft eine solche Fundamentalkritik auf Vorrat nicht weiter. Das Manifest behauptet pauschal und noch vor deren Umsetzung, dass eine menschenwürdige Umsetzung nicht möglich ist.
Aber es gibt Missstände. Die Kirche muss doch wachsam sein und Stellung beziehen.
Ja, und das tun die Kirchen auch. Aber wir sollten uns dabei an die Fakten halten. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Schutz von Geflüchteten und weiter gefassten migrationspolitischen Anliegen. Eine schrankenlose Migration ist wie sie von den Initianten hinter dem Manifest fordern, nicht im Interesse derjenigen Menschen, die flüchten. Das ist ideologisch, klingt einfach, aber es hilft nicht, um die Aufnahmekapazität der Kantone und Gemeinden zu erhöhen. Ich unterstütze die Haltung von Bundesrat Jans. Er will sicherstellen, dass allen Flüchtlingen Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren gewährt wird. Funktionierende Verfahren schaffen Sicherheit und Vertrauen. Dazu gehört aber auch die Unterscheidung von Asyl und anderer Migration.
Und Sie vermuten, dass der Staat das schon richtig machen wird? Ist das nicht naiv?
Nein, das vermute ich nicht, das erwarte ich. Und ich finde es nicht naiv, von einem Rechtsstaat, der zu Recht stolz ist auf seine humanitäre Tradition, solches zu erwarten. Der entscheidende Punkt ist aber nicht die Gesetzgebung, sondern die Umsetzung. Sie wird zeigen, ob die Verfahren an den Aussengrenzen und die Verteilung unter den Mitgliedsländern grundrechtskonform und unter Einhaltung der Flüchtlingskonvention ablaufen. Die Reform muss eine Verbesserung bringen, das werden wir als Gesellschaft und auch als Kirchen genau beobachten. Darin ist mir das Engagement, auch dort wo es über das hinausgeht, was ich unterstützen kann, auch sympathisch. Aber das grundsätzliche Misstrauen, diese Unterstellung, dass diejenigen, die in der Migrationsfrage anders denken, nicht hinter den Grundrechten, den Menschenrechten und dem Völkerrecht stehen, finde ich schwierig.