Vom Seelsorgegeheimnis bis zur Religion in der Bundesverfassung
Kirchliches Engagement im gesellschaftlichen Diskurs
Zwischen reformierten Kernanliegen und Innovation: Im Interview berichtet David Zaugg, EKS-Beauftragter für Public Affairs, von der politischen Arbeit der EKS im Jahr 2023. Neben den Dauerbrennern Asyl, Migration und Bioethik gewann die Grundsatzdiskussion um das Verhältnis von Kirche und Staat wieder an Fahrt.
Welche politischen Themen waren 2023 wichtig für die EKS?
Die Liste ist nicht vollständig, aber asyl- und migrationspolitische Themen waren sicher wichtig sowie Gesetzgebungsprojekte, die kirchliche Berufsgruppen direkt betreffen, wie die Seelsorge beispielsweise. Dazu kam eine Vernehmlassung zur Forschung am Menschen. Mit einer Stellungnahme zur Strategie der internationalen Zusammenarbeit blieben wir bei einer weiteren Kernaufgabe, der Armutsbekämpfung und nachhaltigen Entwicklungspolitik, am Ball. Einen wichtigen Platz nahm ausserdem das 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung ein.
Warum interessierte sich die EKS für dieses Jubiläum?
Es bot Anlass, die Bundesverfassung aus verschiedenen Blickwinkeln auch zu ihren Entwicklungspotenzialen zu befragen. Für uns war naheliegend, das Verhältnis von Religion und Staat in der Verfassung zu thematisieren. Das sich die EKS für diese Thematik nicht von ungefähr interessiert, hat sicher auch mit der ausgeprägten Sensibilität der evangelisch-reformierten Kirchen für staatspolitische Fragen und den weiter zurückliegenden Diskussionsbeiträgen der EKS zur Frage nach einem Religionsartikel in der Bundesverfassung zu tun. In der Diskussion wird dabei oft etwas vorschnell auf die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen gemäss Art. 72 verwiesen. Gleichzeitig wurde und wird Religion regelmässig auch auf nationaler Ebene politisiert, so dass die Verfassung abgesehen von der Grundnorm der Religionsfreiheit weitere explizite Bezüge zu Religion herstellt. Das heutige Minarett- oder das Burkaverbot oder früher das Schächtverbot oder der Bistumsartikel sind nur einige Beispiele.
Anlässlich des Jubiläums hat im Polit-Forum Bern eine Podiumsdiskussion mit dem provokanten Titel «Wieviel Religion darf es denn sein?» stattgefunden. Was kam dabei heraus?
Wir haben uns für diese Veranstaltung gemeinsam mit dem Polit-Forum und der Römisch-katholischen Zentralkonferenz RKZ zum Ziel gesetzt, eine offene Diskussion über die Bundesverfassung, die nationale Politik und ihr Verhältnis zu Religion zu führen. Unsere Leitfrage war, ob die Bundesverfassung in einer religiös zunehmend pluralisierten Gesellschaft noch trägt. Ob nicht nur die Kantone, sondern auch der Bund im Umgang mit Religion eine Aufgabe hätte und falls ja, wie könnte oder sollte diese wahrgenommen werden? In einer Runde mit Personen aus Politik, Kirche, Wissenschaft sowie dem Koordinator des Dialogs der Europäischen Union mit den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und nicht zuletzt auch dem Publikum kamen ganz unterschiedliche Perspektiven in die Diskussion. Dazu gehört natürlich auch die Frage, ob sich der Staat abgesehen von den menschen- und grundrechtlichen Normen überhaupt mit Religionsgemeinschaften beschäftigen soll.
Dahinter stünde ein laizistischer Ansatz.
Stimmt. Eine andere Idee wäre, Staat und Religion in ein dialogisches Verhältnis zu bringen, wie es die Europäische Union mit einer Dialogklausel primärrechtlich verankert hat. Diesem Ansatz folgend könnte man sich für die Schweiz einen repräsentativen Austausch zwischen der nationalen Politik und religiösen Würdenträgern sowie einen themenspezifischen Austausch auf fachlicher Ebene mit Bundesbehörden vorstellen. Die Bundesverfassung schweigt nicht zur Religion, aber sie schweigt sich über die Beziehung zwischen Bund und Religionsgemeinschaften aus. Da besteht eine Lücke, die man stehen lassen kann oder eben auch mit einer konstruktiven Verhältnisbestimmung füllen könnte. Wir haben also keine abschliessende Lösung gefunden. Für gute Antworten braucht es die richtigen Fragen. Dazu wollten wir einen Beitrag leisten und ich denke, dass uns das ganz gut gelungen ist.
Ein weiteres Thema 2023 war die Asylpolitik: Die EKS brachte bei einer Revision des Asylgesetzes ein. Warum?
Wenn wir uns zu asylpolitischen Vorlagen äussern, dann hat das meist mit den Rechten der Geflüchteten in der Schweiz zu tun. Bei den angesprochenen Änderungen des Asylgesetzes ging es um die Definition und den Status von Seelsorge in den Bundesasylzentren. Die Vorlage betrifft sowohl die Seelsorgenden unserer Mitgliedkirchen als auch die EKS in ihrer Zuständigkeit für die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit dem Bund und entsprechend auch die Seelsorge der anderen Religionsgemeinschaften. Anlass dieser Gesetzesänderung war die Etablierung einer muslimischen Seelsorge und das Bedürfnis einer nachhaltigen Klärung ihrer Finanzierung. Bisher gab es auf Gesetzesebene keine rechtlichen Bestimmungen zur Seelsorge. Also wäre das eigentlich ein Novum.
Was hat die EKS geantwortet?
Gemeinsam mit den beiden anderen anerkannten Landeskirchen und dem Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen haben wir uns dezidiert kritisch geäussert. Diese vier Kirchen und Organisationen sind Vertragspartnerinnen mit dem Bund bzw. dem Staatssekretariat für Migration und vertreten in dieser Angelegenheit die gleichen Interessen. Entscheidend war, dass die Gesetzesvorlage Seelsorge als Massnahme zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung funktionalisiert, die zudem vom Bund an dritte delegierbar sein soll. Die seelsorgliche Tätigkeit, die eine religiöse Dimension aufweist, ist aber keine Verwaltungs- sondern eine kirchliche Aufgabe, die sich an den Bedürfnissen der Person mit einem Seelsorgewunsch orientiert. Der Zweck der Seelsorge kann um der Religionsfreiheit Willen nicht vom Gesetzgeber definiert oder vorgegeben werden.
Und dann gab es noch die Finanzierungsfrage: Der Bund möchte die muslimische nicht aber die christliche Seelsorge finanzieren. Wie haben die Kirchen darauf reagiert?
Für uns war wichtig zu betonen, dass wir nicht gegen eine Finanzierung der muslimischen Seelsorge durch den Bund sind – im Gegenteil – und es für uns an der Stelle ebenso wenig um die Finanzierung der christlichen Seelsorge geht. Staats- und religionspolitisch ist es aber problematisch, wenn der Gesetzgeber über die Finanzierungsfrage einen Präzedenzfall für die Ungleichbehandlung von Religionsgemeinschaften schafft. Mit dem Ansatz, zwischen Religionsgemeinschaften mit- und solchen ohne kantonale Kirchensteuererträge kategorisch zu unterscheiden, um der Gefahr einer doppelten Finanzierung der christlichen Seelsorge durch Kantone und Bund vorzubeugen, sind die Kirchen aus mehreren Gründen nicht einverstanden. Die Kirchensteuer als Kriterium zur Hand zu nehmen, funktioniert nicht, weil es sich dabei ja eben um kirchensteuerliche Erträge handelt und nicht um kantonale Gelder. Vom Kanton gesprochene Beiträge sind mit Leistungen in den entsprechenden Kantonen verbunden und nicht mit der Finanzierung von Seelsorge auf Bundesebene. Dazu kommt, dass die Vernehmlassungsvorlage den sehr unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen der anerkannten Kirchen keine Rechnung trägt. Die evangelisch-reformierten Kirchen beispielsweise in Neuenburg, Genf oder auch dem Tessin verfügen über keine oder äusserst geringe kirchensteuerliche Mittel.
Wie soll es damit nun weitergehen?
Gemeinsam haben wir dem Bund einen konkreten Lösungsvorschlag unterbreitet, der den Anliegen der anerkannten Landeskirchen und unseres Erachtens auch jenen des Bundes Rechnung trägt. Wohin die Reise geht, werden wir sehen. Das Geschäft wird uns voraussichtlich auch im Jahr 2024 beschäftigen.
Die Seelsorge war ein weiteres Mal Thema. Der Bund gab eine Änderung im Zivilgesetzbuch in die Vernehmlassung. Es ging dabei um den Erwachsenenschutz und das Seelsorgegeheimnisses. Wie hat die EKS da reagiert?
Die EKS hat das Anliegen, die Aufmerksamkeit für vulnerable erwachsene Personen und ihren Schutz zu stärken, begrüsst. Sie war aber der Meinung, dass diese Zielsetzung nicht in allen Punkten gelingt. Konkrete Kritik hat sie an der Ungleichbehandlung der unterschiedlichen Berufsgruppen, die dem Berufsgeheimnis unterstellt sind, geübt. Pfarrpersonen und kirchliche Seelsorgende wären von der vorgeschlagenen Änderung insofern betroffen, als die Neuregelung der Mitwirkungspflicht eine unverhältnismässige Einschränkung des Berufsgeheimnisses mit sich brächte. Für das seelsorgliche Vertrauensverhältnis ist der besondere Schutz durch staatliches Recht aber von grösster Bedeutung. Die EKS hat hier die Position vertreten, dass die bestehenden Möglichkeiten zur Entbindung vom Berufsgeheimnis ausreichend sind und nicht aufgeweicht werden sollen.
Migration spielte in Ihrer Agenda 2023 eine wichtige Rolle. Wie engagierte sich die EKS hier?
Ich würde hier zwei Themen hervorheben, zu denen wir uns politisch geäussert haben. Bei der einen Frage ging es um die Änderung einer Verordnung, mit dem Ziel, den Zugang zur beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers zu erleichtern. Die EKS hat diese Zielsetzung als Schritt in die richtige Richtung begrüsst. Weil für sie gut begründete Zweifel an der Wirksamkeit der vorgesehenen Massnahmen bestehen, hat sie weitere Anpassungen der Vorlage empfohlen. Dabei ging es primär darum, dass Jugendliche mit rechtswidrigem Aufenthalt, die eine Lehrstelle gefunden haben, diese auch antreten können und unnötige Hürden abgebaut werden.
Das hat per se nichts mit Religion zu tun, warum ist das ein Thema für die EKS?
Kommt darauf an, wie man’s anschaut. Wenn mit Religion die Verkündigung eines Evangeliums gemeint ist, welches den Schutzlosen, Einsamen und Verfolgten dieser Welt Hoffnung geben soll und dazu ebenso diakonisches Handeln gehört, dann unbedingt. Mit anderen Worten heisst das, einen kirchlichen Auftrag in der Gesellschaft wahrzunehmen und einen Beitrag zu leisten, so dass jene, die zu uns kommen, menschenwürdig aufgenommen werden. Die Religionssoziologen würden hoffentlich zum Schluss kommen, dass dieses Engagement der EKS dann eben durchaus mit Religion zu tun hat.
Und der zweite Punkt im Thema Migration?
Hier ging es um die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen». Seit 2019 müssen armutsbetroffene Personen ohne Schweizer Pass um ihre Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung fürchten, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Und das selbst wenn sie schon länger als zehn Jahre in der Schweiz leben, viele Jahre hier gearbeitet haben oder gar hier geboren sind. Es geht um alle, die keinen Schweizer Pass haben und das sind viele. Mit dieser Initiative soll sichergestellt werden, dass jene, die seit zehn Jahren ordnungsgemäss in der Schweiz leben und in die Sozialhilfe abrutschen, keine aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen mehr zu befürchten haben. Von diesem Schutz ausgenommen wären aber Personen, die ihre Sozialhilfebedürftigkeit mutwillig herbeigeführt oder unverändert gelassen haben.
Und dazu hat die EKS eine Stellungnahme verfasst?
Nicht nur. Die Präsidien der EKS und der Schweizerischen Bischofskonferenz haben sich gemeinsam mit einem Schreiben an die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger gewandt. Zudem wurde die Position der Kirchen auch in kirchlichen Medien und säkularen Leitmedien rezipiert.
Ein weiteres wichtiges Thema ist noch die internationale Zusammenarbeit. Eine weitere Vernehmlassung stand hier an.
Genau. Da ging es um die Strategie der internationalen Zusammenarbeit für die Jahre 2025 bis 2028.
Ein Anliegen der Werke, oder?
Ja, aber es ist genauso ein kirchliches Anliegen und das nicht nur, weil sich die EKS für ihre kirchlichen Werke und Missionsorganisationen einsetzt. Armutsbekämpfung und nachhaltigen Entwicklung in der internationalen Zusammenarbeit waren und sind auch für die EKS wichtig. Im Unterschied zu den Werken und Missionsorganisationen unterhält die EKS keine eigenen Projekte in der Entwicklungs- oder Nothilfe. Naturgemäss ist ihre Perspektive hier vielleicht etwas anders akzentuiert, uns verbindet der gemeinsame Auftrag.
Kommen wir zum Bereich Ethik. Da gab es auch eine Vernehmlassung zur Forschung am Menschen.
Meist geht es hier um Fragen vom Lebensanfang und Lebensende. Also um existenzielle Fragen, zu denen die Kirche eigene Perspektiven hat. Diese sind nicht gleichbleibend, sondern werden neu diskutiert und ausgehandelt. Wir bringen theologisch-ethische Argumente in den Diskurs ein. In solchen Diskussionen stecken immer Welt- und Menschenbilder, die vorbestimmen, wie wir ethisch abwägen.
Und in der konkreten Vorlage, wie stand die EKS dazu?
Sie betraf einen Rechtsbereich, zu dem wir uns früher schon geäussert hatten. Damals noch grundsätzlicher verhandelt. Im letzten Jahr war es eine sehr technische Vorlage, die viel Sachverständnis und Bezug zur Praxis voraussetzt. Für mich ist die Thematik zu komplex, als dass ich in die Tiefe gehen könnte. Da haben wir mit Frank Mathwig ein langjähriges Mitglied der Nationalen Ethikkommission und Experten für bioethische Fragestellungen und jene Aspekte, auf die es im Bereich der Forschung am Menschen ankommt. Grundsätzlich geht es um die Rahmenbedingungen für den konkreten Forschungsbereich. Das Interesse von Patienten deckt sich nicht zwingend mit jenem der Forschung. In der Vorlage konnten wir die meisten Änderungen im Grundsatz jedoch begrüssen.
Die politische Arbeit der EKS muss auch immer abwägen: Wozu sagt die Kirche etwas und wozu sagt sie nichts? Wie findet der Rat EKS da Kompromisse?
Wenn es darum geht, ob sich der Rat EKS bei einem politischen Thema zu Wort meldet oder nicht, spielt Unterschiedliches eine Rolle: Den grundsätzlichsten Orientierungsrahmen gibt die EKS-Verfassung vor. Danach stellt sich etwa die Frage, ob ein Thema aus evangelisch-reformiertem Verständnis für das menschliche (Zusammen-)Leben oder die politisch-gesellschaftliche Entwicklung relevant ist. Gefragt wird auch nach der thematischen Kontinuität und inhaltlichen Kohärenz über die Zeit. Ausserdem die Expertise. Wir sind stark in Bioethik, Menschen- und Grundrechten, Asyl- und Migrationspolitik. Und dann gibt es auch Themen, die uns institutionell direkt betreffen. Zu den Aufgaben der EKS gehört nicht zuletzt auch, die institutionellen Interessen ihrer Mitgliedkirchen auf nationaler Ebene zu vertreten. Neben der Verfügbarkeit von Expertise spielen die zeitlichen Ressourcen, um ein Thema angemessen zu bearbeiten und eine gute Form der Kommunikation zu finden, eine Rolle. Oft geht es für den Rat nicht einfach um ein Ja oder Nein zu einer politischen Sachfrage, sondern darum, theologisch-ethische Perspektiven und Abwägungen in den politischen Diskurs einzubringen. In der schnelllebigen Gesellschaft von heute Aufmerksamkeit und offene Ohren dafür zu finden, ist eine Herausforderung.
Also ist die Aufgabe im Bereich «Public Affairs», Argumente zu liefern anstatt Abstimmungspaket zu drucken?
Ja, so ungefähr (lacht). Es ist wichtig, dass die Kirche eine eigene Form findet, sich an den politischen Diskursen zu beteiligen. Kirchen sind keine politischen Parteien, keine politischen Interessengruppen, die für ihre Mitglieder im Politischen eine geklärte, spezifische Position einnehmen können oder wollen sollen. Kirche ist in erster Linie Kirche und versammelt als solche die Gläubigen und lädt zur Gemeinschaft ein. Sie verabschiedet sich aber nicht von der Welt, wendet sich ab oder zieht sich zurück, sondern erkennt einen Auftrag in der und für die Gesellschaft. Nicht mit einem politischen Machtanspruch, sondern mit dem Ziel, sich im Diskurs auf eine glaubwürdige Art und Weise vernehmbar zu machen. Insofern ist das, was Kirche in den öffentlichen Diskurs einbringt, nicht die Summe der Stimmen ihrer Mitglieder, sondern die Erfüllung ihres Auftrags in der Gesellschaft.
Das Interview führte Michèle Graf-Kaiser im Februar 2024