Die fahrlässige oder bewusste Selbstimmunisierung führte dazu, Täter (in der EKD-Studie zu über 90% männlich) zu schützen, Gewalt zu vertuschen und die Opfer zu ignorieren. Detlev Zander, der Sprecher der Missbrauchsbetroffenen aus dem Beteiligungsforum, spricht von einem «rabenschwarzen Tag» für die EKD. Die Studie zeigt, dass Missbrauchsfälle keine Ausnahme innerhalb einer mit hohen moralischen Ansprüchen auftretenden evangelischen Kirche darstellen. Vielmehr werden sie durch Missbrauchsstrukturen begünstigt, die mit dem kulturellen, theologischen und organisationalen Selbstverständnis der Kirche konstitutiv verbunden sind. Auch der Umgang mit den Betroffenen, die es gewagt haben, sich zu melden, ist aufgrund der föderalen Strukturen der Kirche sehr unterschiedliche und zum Teil auch unwürdig gewesen.
Empirische Grundlage durch Studie
Die Studie liefert erstmals eine empirische Grundlage, um Missbrauch, missbrauchsfördernde Strukturen und Konstellationen, aber auch den Umgang mit Betroffenen innerhalb der evangelischen Kirche zu verstehen. Die fünf Teilstudien richten sich auf unterschiedliche Aspekte:
Im Teilprojekt A werden evangelische Spezifika erhoben, die Missbrauch begünstigen können. Das Teilprojekt B identifiziert organisationale und systemische Faktoren der evangelischen Kirche, die Missbrauch begünstigen oder verhindern. Teilprojekt C dokumentiert die Erfahrungen und Perspektiven von Betroffenen. Teilprojekt D widmet sich den Gefährdungs- und Tatkonstellationen, denen Betroffene ausgeliefert waren. Von besonderem Interesse ist dabei, ob sich Merkmale der Beschuldigten identifizieren lassen. Das Teilprojekt E ermittelt Kennzahlen zum Ausmass der Häufigkeit von Übergriffen und erlittener sexualisierter Gewalt.
Die Untersuchung wurde von dem interdisziplinären und unabhängigen Forschungsverbund «ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland» durchgeführt. Betroffene waren teilweise als Mitforschende beteiligt. Über hundert von ihnen wurden zu ihren Missbrauchserfahrungen interviewt. Die EKD förderte diese Studie mit 3,6 Millionen Euro.
Untersucht wurden Missbrauchsfälle von Personen, die zum Tatzeitpunkt minderjährig waren. Die Untersuchung von Übergriffen auf erwachsene Personen steht noch aus, worauf auch die Forschenden hinweisen. Das Täterspektrum beschränkte sich nicht nur auf Pfarrpersonen, sondern alle kirchlichen Berufsgruppen.
Ein Vergleich der Fallzahlen mit denjenigen der Studie «Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz» zur katholischen Kirche ist nicht möglich, weil die Quellenlage der evangelischen Studie aufgrund der Art und Organisation der Dossiers sowie fehlender personeller und zeitlicher Ressourcen eingeschränkt war. Für 19 von 20 Mitgliedkirchen konnte lediglich eine Disziplinarakten-Analyse durchgeführt werden. Nur eine Landeskirche hat die Personalakten vollständig ausgewertet und bereitgestellt. Ausserdem bezieht sich die EKD-Studie nur auf zur Tatzeit Minderjährige. Auf dieser Grundlage konnten 1259 Beschuldigte und 2225 Opfer festgestellt werden. Die Forschenden gehen aufgrund des Vergleichs von Fällen in Disziplinarakten und Fällen, die sie nur in den Personalakten fanden, davon aus, dass – zumindest in dieser Kirche – mindestens 60% der Täter und rund 75% der Opfer nicht erfasst sind. Auch wenn Hochrechnungen aus wissenschaftlicher Perspektive schwierig sind, kommt eine Extrapolation zu dem Ergebnis von 9355 Missbrauchsbetroffenen und 3497 Beschuldigten. Die Betroffenen sind zu Zweidritteln männlich, die Täter in nahezu 100% der Fälle ebenfalls.
Missbrauch auf evangelisch
Diese Zahlen sind für sich genommen erschlagend. Die Studie weist nach, dass Missbrauch in der Kirche ein konfessionsübergreifendes Phänomen darstellt.
Konfessionsspezifisch sind dagegen die Faktoren und Gründe, die sexuelle Übergriffe und Missbrauch in der evangelischen Kirche begünstigen. Der Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland zeigt, dass die kirchlichen Strukturen wichtiger als die jeweiligen politischen Verhältnisse oder Frömmigkeitskulturen. Drei Typen evangelischer Spezifika stehen im Vordergrund:
Organisationale und systemische Faktoren
Das Selbstverständnis der EKD als grundsätzlich partizipative, hierarchisch flache und progressive Kirche führte zu einer systematischen Ausblendung der prekären eigenen Situation. Die Problemzusammenhänge wurden als spezifisch katholische angesehen. Beim Thema Missbrauch zeigt sich eine eklatante Divergenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Institution. Besonders der Föderalismus führt zu einer Verfahrens- und Zuständigkeitsintransparenz, die in den Augen der Betroffenen zur «Säule des Missbrauchs» wurden. Entgegen dem kirchlichen Selbstverständnis weist die Analyse «Partizipation» als einen Schlüsselbegriff systemischer missbrauchsbegünstigender Faktoren aus.
Partizipation steht einerseits für die berechtigte Forderung vieler Betroffener nach Gehör und Einbezug in Studiendesign, Implementierung von Massnahmen und Einrichtung wirksamer Präventionskonzepte. Diese werden aber häufig nicht als kompetente Partnerinnen und Partner verstanden, sondern auf seelsorglich zu begleitende Opfer reduziert. Gleichzeitig diente Partizipation zur Legitimation der bürokratischen Verschleppung der Aufarbeitungsprozesse: In der Präsentation der Studie war explizit von der regelrechten Koketterie mit den eigenen partizipativen und föderalistischen Strukturen die Rede. In den meisten Fällen waren die kirchlichen Reaktionen auf eine Deeskalation der Einzelsituation gerichtet, um die Frage der strukturellen Gewalt der Organisation selbst abzublocken. Insgesamt wirken die kirchlichen Strukturen und Verfahren aufgrund der föderalen Unterschiede für Betroffene uneinheitlich und intransparent.
Theologische Faktoren
Als besonders problematisch zeigt sich eine mechanistische Auffassung des Schuld- und Vergebungszusammenhangs. Betroffene wurden kirchlicherseits vorschnell mit dem Wunsch nach Vergebung konfrontiert, wobei der Prozess der Anerkennung des Leids, der Reue und Wiedergutmachung – auch durch eine finanzielle Anerkennung – übersprungen wird. Missbrauch entgeht der Strafverfolgung, weil er in prekärer Weise auf die theologische Ebene von Glaubens- und Heilsfragen verschoben wird. Abgeblockt wird damit das Anliegen der Betroffenen, anstatt seelsorgerlicher Verarbeitung eine ernsthafte und kritische Auseinandersetzung mit den Ermöglichungsbedingungen sexualisierter Gewalt in kirchlichen Strukturen und Kontexten anzustossen. Wie die dokumentierten Fälle zeigen, wurden die Betroffenen, die nicht den kirchlichen Erwartungen entsprachen und auf Veränderungen drängten, diskreditiert und pathologisiert.
Als prekär erweist sich gemäss der Studie auch das traditionelle soziale und spirituelle Machtgefälle im Amtsverständnis evangelischer Pfarrpersonen, die gegenüber der Gemeinde mit einer hohen Deutungsmacht ausgestattet sind: Betroffene und Mitwissende hatten und haben immer noch Schwierigkeiten, dieser Autorität etwas entgegenzusetzen. Erschwerend tritt das kirchliche Selbstbild einer imaginierten, familienähnlichen Idealgemeinschaft hinzu, welche zu einer patriarchalen, konfliktvermeidenden und gegenüber aussen abgeschlossenen Grundstimmung führt. Betroffene werden um des lieben Friedens willen ausgeschlossen, wenn sie nicht in die kirchliche Vorstellung von Konfliktlösung passen. Besonders institutionell distanzierte Menschen finden kaum Zugang zur Mitgestaltung von Aufarbeitungs- und Präventionsprozessen.
Ein besonderes Problem stellt der geistliche Missbrauch dar, der in vielen Fällen der sexualisierten Gewalt vorausgeht. Die Betroffenen erleiden dadurch geistlichen, geistigen und körperlichen Missbrauch. Viele Betroffene erzählen, dass sie sich nach einer anfänglich positiven Erfahrung aufgrund dieser Ereignisse nicht nur von der Kirche, sondern auch vom Glauben oder der Religion abgewendet haben.
Kulturelle Faktoren
Für den untersuchten Zeitraum der letzten rund 70 Jahre zeigt sich in der evangelischen Kirche ein verwirrendes, widersprüchliches Sexualverständnis, das zwischen Tabuisierung und Entgrenzung changiert. Dies führt zu problematischen Unklarheiten, wenn es darum geht, Grenzen zu definieren, professionelle Standards durchzusetzen und auch schon nur, Privates und Berufliches zu trennen. Das Pfarrhaus ist das Symbol und der prominente Ort, an dem sich diese Problematik verdichtet.
Verstärkend wirken die strukturellen Schwachstellen, weil sie im Widerspruch stehen zum evangelischen Selbstbild moralischer und kultureller Überlegenheit gegenüber anderen Institutionen und Religionsgemeinschaften. Das positive Image der evangelischen Kirche als sicherer, die menschliche Würde und Integrität schützender, kinderfreundlicher und weltoffener Ort, erschweren die Thematisierung von Missbrauch.
Keine Hilfe
Nebst den Schilderungen Betroffener über die erlittene sexualisierte Gewalt und den Machtmissbrauch erschüttert besonders ihre Wahrnehmung kirchlicher Aufarbeitung von Missbrauchsfällen: Die meisten Betroffenen empfinden das kirchliche Handeln als wenig hilfreich. Sie fühlen sich paternalistisch entmündigt, pathologisiert oder stellen fest, dass das Verfahren in den kirchlichen Strukturen verschleppt worden ist.
Das ist umso bitterer, als ohne dieses Engagement der Betroffenen überhaupt kein institutionelles Bewusstsein für dieses Problem entstanden wäre! Das kirchliche Versagen gegenüber den Betroffenen, die sich bei der Kirche gemeldet haben, ist in der Studie dokumentiert. Betroffene wünschen sich in den wenigsten Fällen seelischen Beistand oder seelsorgerliche Hilfe durch die Kirche. Vielmehr drängen sie darauf, dass die missbrauchsfördenden Strukturen aufgedeckt und die Täter entlarvt werden, damit die Gefahr für weiteren Missbrauch gebannt wird. Oft erfahren sie erst viel später und nur auf eigene Initiative, dass sie nicht die einzigen Betroffenen bei einem bestimmten Täter waren. Sie wollen nicht auf ihre Opferrolle reduziert werden, sondern ihre persönlichen Erfahrungen konstruktiv in kirchliche Emanzipationsprozesse einbringen.
Was die evangelisch-reformierten Kirchen tun können
Es wäre nicht nur wenig hilfreich, sondern auch zynisch gegenüber den betroffenen Personen, die Ergebnisse der EKD-Studie im Blick auf die schweizerischen Verhältnisse zu relativieren. Es stimmt, dass die evangelisch-reformierten Kirchen in der Schweiz keine Diakoniewerke mit kirchlich geführten Spitälern, Schulen, Kindergärten und Heimen unterhält. Das würde sich sicher in den Zahlen in der Schweiz ausweisen. Aber es ist davon auszugehen, dass die Befunde zu Kinder- und Jugendarbeit, zu Missbrauch in der Kirchgemeinde, die Analyse kultureller und theologischer Spezifika, die Missbrauch fördern, grundsätzlich auch für die evangelisch-reformierten Kirchen zutreffen.
Ohnehin zeigt die EKD-Studie, dass jetzt nicht kirchliche Worte gefragt sind. Was es jetzt zuerst braucht, ist die Bereitschaft, den Betroffenen aufmerksam zuzuhören und ihre Erfahrungen zu würdigen. Dazu gehört auch ein würdiges, einheitliches Verfahren inklusive Dokumentation und Archivierung, egal, wo sich Betroffene melden. Wenn die Kirchen deren Anliegen nach Veränderung wirklich teilen, führt kein Weg an einer Studie vorbei, die sich zentral mit der Betroffenenperspektive auseinandersetzt und die Kirchen darauf verpflichtet, aufmerksam und selbstkritisch hinzuhören.
Zweitens zeigen die Studienergebnisse, wie wichtig externe, nicht-kirchliche Fachstellen für Betroffene sind und wie entscheidend es ist, dass sich Betroffene niederschwellig melden können. Dieses Bedürfnis muss den föderalistischen Strukturen übergeordnet werden.
Drittens darf unsere basisdemokratische, partizipative Milizstruktur nicht länger als entscheidender Hinderungsgrund angeführt werden, um die Machbarkeit einer Studie zu hinterfragen, und sie darf nicht dazu führen, Verantwortlichkeiten zu verwischen. Es wäre ein Zynismus gegenüber den Betroffenen, würde diese Forderung zu einem kirchenpolitischen Zankapfel im Richtungsstreit zwischen dezentralen und zentralen Organisationsformen, Professionalisierungstendenzen versus Partizipationsmodellen werden. Es geht um das Problembewusstsein und die Wachsamkeit aller Personen, die kirchliche Verantwortung tragen, für die eigenen systemischen und kulturellen Schwachstellen.
Die EKS und die Mitgliedkirchen sind jetzt gefordert, ihre Missbrauchsgeschichte aufzuarbeiten, die systemischen Problemzonen zu erkennen und zu beheben. Sie werden das nicht ohne Betroffene schaffen, die ihnen dabei helfen. Sie machen es nicht für diese Betroffenen, sondern mit ihrer Hilfe für die ganze Kirche und die Menschen, die darin zusammenleben wollen.
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