Ernst Sieber (1927-2018)
Obdachlosenpfarrer, Visionär einer solidarischen und gerechteren Welt
«Gott hat mit der Botschaft am Kreuz dem Menschen jene Kräfte gezeigt, die nötig sind, um eine friedliche Welt zu schaffen. Jetzt müssen wir etwas tun. Heute, nicht morgen müssen wir die Welt zu retten versuchen.»
Ernst Sieber wurde 1927 in Horgen im Kanton Zürich geboren, sein Vater war Elektromechaniker. Zunächst arbeitete Sieber als Bauernknecht im Sihltal und in der Romandie, besuchte eine landwirtschaftliche Schule und schrieb später über seine Erfahrungen: «Ein prägendes Erlebnis mit dem Dank hatte ich, als ich auf der Alp arbeitete. Auf dem Weg ins Tal begegnete ich oft einem Älpler. «Bhüet di Gott – dank dir Gott!», grüsste er mich jeweils. […] Kaum ein anderer Sinnspruch machte mir so klar, dass Dankbarkeit der Weg zu Gott ist.» Er holte seine Matura nach, studierte in den 1950er-Jahren in Zürich Theologie. Nach seinem Vikariat in den Slums von Paris wurde er 1956 Pfarrer in Uitikon-Waldegg und war anschliessend von 1967 bis zur Pensionierung 1992 Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde Zürich-Altstetten. Sieber bezeichnete sich selbst gerne als Knecht Gottes. Dass er seinen Worten Taten folgen liess, machte ihn glaubwürdig.
In den frühen 1960er-Jahren kam Sieber zu seinem Image als Obdachlosenpfarrer. Im eiskalten Winter 1963 richtete er in einem alten Bunker eine Unterkunft für Obdachlose ein. Daraus entstand die selbstverwaltete Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Suneboge. Nach den Zürcher Jugendunruhen 1980 lud Sieber Seelsorgende der katholischen, christkatholischen und reformierten Kirchen ein und gründete eine Gruppe, die zwischen Jugendlichen und Stadt vermittelte und versöhnte. Ende der 1980er-Jahre begann er sich um die Drogensüchtigen in Zürich zu kümmern. Es entstanden Anlaufstellen, Notschlafstellen, ein Aids-Hospiz und Rehabilitationseinrichtungen. Der Pfarrer scheute sich dabei nicht, laut und medienwirksam für die Bedürfnisse der Ärmsten aufzutreten. Mit unkonventionellen Methoden konnte er auch kirchenkritische Kreise für sich und seine Visionen gewinnen.
Für Randständige war Sieber eine Vaterfigur. Er spürte, wo die Ressourcen eines Menschen liegen und erfasste das Gegenüber als ganzes Wesen, schaute nicht nur auf Mängel, Süchte und Krankheiten. Sieber hat die Menschen so berührt und liess sich von ihrem Leid berühren. Die Menschwerdung Gottes und die Auferstehung Christi markierten in Siebers Augen die Zusage Gottes, dass jeder Mensch seine Würde behält.
Im Laufe der Jahre baute Sieber drei Dutzend Projekte auf. 1988 gründete er die nach ihm benannten Sozialwerke, die therapeutische Lebensgemeinschaften, Notschlafstellen und Begegnungszentren in vier Kantonen betrieben. Bei den Sozialwerken Pfarrer Sieber, die pro Jahr 22 Millionen Franken generieren, arbeitete Sieber unentgeltlich, da er sich Franz von Assisi zum Vorbild nahm. Um 2000 kam die Stiftung der Sozialwerke in wirtschaftliche Schieflage. Kirche, Staat und Spendende retteten sie vor dem Konkurs.
Von 1991 bis 1995 sass er für die Evangelische Volkspartei im Schweizer Nationalrat. Seine packenden Reden im Bundeshaus waren Appelle, die die Politik an die Humanität erinnern sollten. Oft hielt er dabei ein Holzkreuz hoch. Reformator Huldrych Zwingli war ihm eine wichtige Inspiration in seinem aktiven Kampf, aber auch seiner Sorge für Benachteiligte. In der reformierten Kirche mit ihrer aufgeklärten Religiosität und gelebten Diakonie sah Sieber immer seine Heimat.
Eine wichtige Rolle in Siebers Leben und Werk spielte seine Frau, die Sängerin Sonja Sieber-Vassalli, mit der er acht Kinder grosszog, vier eigene und vier adoptierte. Seine Liebe zu Tieren und die Kunst waren für Sieber ein wichtiger Ausgleich: Er schrieb zahlreiche Bücher, malte und schuf Skulpturen. Bis zu seinem Tod war er immer noch sehr aktiv, kümmerte sich um sein Lieblingsprojekt – den «Pfuusbus», einen alten Camion, der im Winter 40 Schlafplätze für Obdachlose bietet.