An der gut besuchten Vernissage am 12. August 2020 durften Interessierte einen ersten Blick in die Ausstellung werfen, die noch bis am 12. Dezember 2020 im Polit-Forum im Käfigturm gratis zu sehen sein wird. Texte und Fotos sind dafür im Raum frei aufgehängt, Filmausschnitte werden direkt an die Wände projiziert, was der Ausstellung eine zu Religionen passende Leichtigkeit und Transparenz verleiht. Säulen machen Prozentzahlen plastisch sichtbar und zeigen zum Beispiel, wo Religion im Leben heute eine Rolle spielt: in schwierigen Lebensmomenten (56 Prozent), bei Krankheit (47 Prozent) oder in der Einstellung gegenüber Natur und Umwelt (47 Prozent), weniger im Beruf (23 Prozent) oder im Sexualleben (16 Prozent). Und nicht zuletzt löst ein Baugerüst-Exponat den Besuchenden den scheinbar sonderbaren Titel der Ausstellung Shiva begegnet SUVA auf: Wenn Hindu-Tradition auf Sicherheitsvorschrift trifft, kann es eben schon mal kompliziert werden. So musste der Bau des Tempels im Haus der Religionen in Bern gemäss hinduistischer Tradition barfuss und ohne Kopfbedeckung erfolgen. Nach den Richtlinien der schweizerischen Unfallversicherung sind Arbeiter ohne Schuhe und Helm auf einem Baugerüst jedoch undenkbar.
Im obersten Stock laden dann Hörstationen mit Ansichten von Expertinnen und Experten zur Zukunft der Religionen zum Weiterdenken ein. Denn ein zentrales Ziel der Ausstellung ist es, Diskussionsstoff zu liefern. So lobt Esther Gaillard, Vizepräsidentin des Rates der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS, in ihrem Eröffnungswort die Ausstellungsmacher für ihren Mut, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, das faszinierend, aber manchmal auch ein Tabu sein kann. «Über Religion zu sprechen ist schwierig, das Thema ist manchmal zu privat und emotional und den meisten Menschen sogar unbekannt. Shiva begegnet SUVA legt die religiöse Vielfalt offen. Und schliesslich sucht die Ausstellung nach Wegen, um die entfernte Öffentlichkeit zu interessieren, ohne sie zu überfallen», erläuterte Esther Gaillard. Die EKS und die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz RKZ unterstützen das Polit-Forum und die Veranstaltungsreihe zu «Shiva begegnet SUVA».
So öffnete der Ausstellungstitel auch RKZ-Generalsekretär Daniel Kosch das Fenster zu Religion und Staat im Alltag. Er fand schnell eigene Beispiele: «Vatikanische Behörden begegnen Gleichstellungsgesetz.», «Kirchenglocken begegnen Lärmschutzverordnung.» oder «Kantonale Regierung findet Wege, um neben den öffentlich rechtlich anerkannten Kirchen auch andere Religionsgemeinschaften für ihr gesellschaftliches Engagement zu unterstützen». Das «und» zwischen Staat und Religion signalisiere aus seiner Sicht nicht nur ein Spannungsfeld. Es ermöglicht wechselseitige Lernprozesse, wenn säkulares Recht und religiöses Empfinden aufeinanderprallen. Deshalb verlange diese Beziehung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften auch beides: Konstruktive Zusammenarbeit und freiheitsbewahrende Distanz. Je vielfältiger die Erwartungen an den Staat und je bunter die Religionslandschaft wird, desto spannender und anspruchsvoller wird dieses «und» für alle Beteiligten. Kosch erinnerte die Ausstellungsbesuchenden abschliessend daran, wie wichtig es sei, die Realitäten wahrzunehmen und zu diskutieren.
Direkt aus diesen Realitäten kommt Walter Glauser, einer der Porträtierten der Ausstellung, selbstständiger Berater für Friedhöfe und früherer Bereichsleiter Friedhöfe der Stadt Bern. Um die religiösen Vorstellungen und staatlichen Vorschriften bei der Bestattung unter einen Hut zu bringen brauche es starke Nerven, Fingerspitzengefühl und Erfindergeist. So fand man beispielsweise für hinduistische Bestattungsfeiern ganz pragmatische Feuerschutzmassnahmen. Da brennende Öllampen und rituelle Feuer in einer Kapelle immer wieder Feueralarme auslösten, dürfen die Brandmelder während der Zeremonien nun ausgeschaltet werden. Dafür stehen Feuerlöscher und Branddecken parat, Friedhofsmitarbeitende dürfen die Priester darauf hinweisen, wenn ein Feuer zu gross wird. Walter Glauser erläuterte aber auch die Auswirkungen der Zunahme an Konfessionslosen und der Individualisierung. Reihengräber mit Grabstein und Bepflanzung kommen aus der Mode – der Trend geht zur Natur. So versuchen die Friedhöfe zunehmend Alternativen wie Waldgräber, spezielle Gemeinschaftsgräber oder gar Schmetterlingsoasen anzubieten. Bei letzterer lockt eine spezielle Bepflanzung im Sommer viele Schmetterlinge an.
Zum Abschluss der Vernissage brachte die Menschenrechtsaktivistin, Politikwissenschaftlerin und Muslimin Elham Manea das wichtige Thema Religionen und Gleichberechtigung aufs Podium. Sollte denn der Staat die Religionen bei der Gleichberechtigung stärker in die Pflicht nehmen? «Ja, wenn nötig», sagte die Expertin. Aus ihrer Sicht kann Religion Positives zur Gesellschaft beitragen, wie Spiritualität, Nächstenliebe und Zusammenhalt. Doch in Geschlechterfragen und Gleichberechtigung merke man, dass es noch viel zu tun gibt, so Manea. Es gibt religiöse Gesetze sowie Normen und Werte, die entweder gegen die Gleichberechtigung verstossen oder dazu führen, dass Frauen und Mädchen als Minderjährige weniger Wert sind und dementsprechend anders behandelt werden. Der Staat muss deshalb seine Verantwortung wahrnehmen, die Schwächsten der Gesellschaft zu schützen. Elham Manea sieht besonders bei der Zwangsheirat minderjähriger Mädchen in der Schweiz grossen Handlungsbedarf. Hier müssten die Religionsgemeinschaften in die Pflicht genommen werden. Man dürfe nicht wegschauen, denn es geht um Menschen und Menschenrechte.
Alle Interviews und Stimmen der Vernissage finden Sie in diesem Video.
Die Ausstellung dauert noch bis 12. Dezember 2020 und wird durch verschiedene Führungen, Living Libraries und Podiumsdiskussionen ergänzt. Für Schulklassen gibt es didaktisches Material. Ein Einblick in die Ausstellung gibt es auch im Haus der Religionen, wo ein Kubus zu «Shiva begegnet SUVA» installiert ist.
Fotos von Monica Schulthess Zettel | EKS